2023 - Green Deal mit rotem Kern
Aufarbeitung der Wahlniederlage und ein 10-Milliarden-Sondervermögen für Klimaschutz, Wärme und Mobilität.
2023 ringt die SPD Berlin um ihre innere Form und um ein Versprechen für die Stadt, sozial, klimaneutral und bezahlbar.
Mein Name ist Andreas Dahrendorf, 58, SPD-Mitglied in Berlin-Kreuzberg-61. Wer die Anträge 2023 liest, hört zwei Stimmen. Die eine spricht nach innen: Wie konnte die Wahl so verloren gehen? Welche Regeln braucht die Partei, um sich neu aufzustellen? Die andere spricht nach außen: Wie gelingt die Klimawende, ohne dass sie Mieter_innen, Arbeiter_innen und sozial Schwache überrollt? Die Spannung zwischen diesen beiden Stimmen zieht sich durch das gesamte Jahr.
Parteiorganisation: Selbstbefragung und neue Regeln
Nach der verlorenen Wiederholungswahl im Februar 2023 stellt sich die SPD selbst zur Disposition. Mehrere Anträge fordern eine umfassende Aufarbeitung, durch externe Gutachten, durch eine eigene Kommission, durch offene Debatten (Anträge 01/I/2023, 02/I/2023). Das Schlagwort lautet „Analyse statt Schönreden“.
Auch das Statut wird wieder angefasst. In § 22a soll die Frist zur Antragstellung präzisiert werden (Antrag 05/I/2023). In § 12 Geschäftsordnung geht es um die Frage, wann eine Debatte geschlossen werden darf (Antrag 06/I/2023). Es ist die technische Seite des innerparteilichen Machtkampfes.
Mehrere Anträge betreffen die Mitgliederentscheide: Soll künftig jede Koalition von der Basis bestätigt werden? Ja, aber mit klaren Informationskampagnen, die ausgewogen und transparent sind (Anträge 07/I/2023, 08/I/2023). Hier zeigt sich, wie tief das Misstrauen nach Jahren schwieriger Koalitionsbildungen sitzt.
Symbolisch stark: Ein Antrag fordert, dass die Regierungsbildung stets paritätisch und divers sein muss (Antrag 09/I/2023). Das ist die Fortschreibung der Doppelspitzendebatten der Vorjahre und zugleich eine Reaktion auf die Kritik, dass Vielfalt in Spitzenämtern zu oft ein Lippenbekenntnis blieb.
Selbst Transparenzfragen werden verhandelt. Die Forderung, Sitzungen der Antragskommission live zu übertragen (Antrag 10/I/2023), scheitert. Aber allein, dass sie gestellt wird, zeigt den Druck der Basis, Verfahren sichtbarer zu machen.
Leitbild: Sozial, klimaneutral, bezahlbar
Die Klammer über allen Anträgen 2023 sind die Leitanträge 01/II/2023 und 02/II/2023: „Berlin: sozial, klimaneutral und für alle bezahlbar“, bzw. „sozial, klimaneutral, innovativ und für alle bezahlbar“. Hier formuliert die SPD ihr Programm nach außen.
Das Herzstück ist ein Sondervermögen für Klimaschutz, Resilienz und Transformation von bis zu 10 Milliarden Euro (Antrag 03/II/2023). Damit sollen Wärmewende, Gebäudesanierung, Mobilitätswende und Energieumbau finanziert werden. Der Marker „sozial abgefedert“ zieht sich durch die Texte: Jeder Euro für Klimaschutz muss so ausgegeben werden, dass er nicht die Ärmsten trifft.
Energie & Wärme: Rekommunalisieren und umbauen
Berlin will sich die Wärme zurückholen. Anträge fordern den Erwerb der Fernwärme und den Einstieg bei der GASAG (Antrag 04/II/2023). Kommunale Wärmeplanung soll gesetzlich verankert werden.
Dazu kommen Programme für Solar, Wind und Wasserstoff (Antrag 05/II/2023). „Solarcity Berlin“ bleibt das Schlagwort, flankiert von Bürgerenergie und Mieterstrom. In allen Begründungen taucht das Versprechen auf: „Die Energiewende muss gerecht gestaltet sein.“
Gebäude & Wohnen: Klima- und Mieterschutz zugleich
Besonders detailliert werden die Anträge im Gebäudesektor. Gefordert wird ein Förderprogramm „Klima- und Mieterschutz“, das Sanierungen sozial flankiert (Antrag 06/II/2023). Die Warmmietenneutralität wird als Prinzip verankert: Wer saniert, darf die Kosten nicht auf die Miete umlegen.
Für Senior_innen sollen Wohnungstauschprogramme ausgeweitet werden, für Azubis und Studierende günstige Heime entstehen. Der Marker „bezahlbar“ taucht in jedem Absatz auf. Hier liegt die Konfliktlinie offen: Klimaziele gegen Mieter_innenschutz. Die SPD versucht, beides zu verbinden.
Mobilität: Ausbau statt Autobahn
Die Anträge fordern ein 29-Euro-Ticket für Berlin (Antrag 07/II/2023), Nachtzüge nach Europa, mehr Investitionen in den Radverkehr. Und: ein klarer Stopp der A100-Verlängerung. Der Marker „Verkehrswende“ wird als positives Projekt beschrieben, nicht als Verbotsrhetorik, sondern als Investition in bessere Alternativen.
Stadtgrün & Wasser
Berlin soll zur Schwammstadt werden. 500.000 neue Straßenbäume, Hitzeschutzpläne, mehr Trinkbrunnen. Das alles steht in Antrag 08/II/2023. Klimaanpassung wird nicht mehr als Zukunftsfrage, sondern als Gegenwartsaufgabe verhandelt.
Wirtschaft & Arbeit
Ein zentrales Anliegen 2023 ist die Transformation der Berliner Industrie. Anträge fordern eine engere Kooperation mit Brandenburg, um Energie, Forschung und Industriepolitik regional zu verzahnen (Antrag 09/II/2023).
Dazu kommen klassische SPD-Forderungen: Ausbildungsumlage, Umschulung für „Klimaberufe“, ein Industriestrompreis, der Wettbewerbsfähigkeit und Dekarbonisierung verbindet.
Auch Start-ups werden adressiert: Förderungen, bessere Gewerbeflächenpolitik, Ausbau der Urban Tech Republic am Flughafen Tegel (Antrag 10/II/2023).
Soziale Gerechtigkeit
Die SPD will 2023 eine sozial gerechte Verteilung der Klimakosten. Im Antrag 11/II/2023 heißt es: „Die Kosten der Transformation müssen von den Schultern derjenigen getragen werden, die am meisten profitieren.“ Konkret bedeutet das: Klimageld für alle Bürger:innen, Beteiligung von Konzernen an den Lasten, Gender-Impact-Assessments für alle Maßnahmen.
Die intersektionale Perspektive wird explizit: Frauen, Migrant:innen, sozial Schwächere sollen besonders berücksichtigt werden.
Bundes- und Europapolitik
Berlin schaut über den Tellerrand. Anträge fordern die Abschaffung der Schuldenbremse auf Bundesebene, ersetzt durch eine „Goldene Regel“ für Investitionen (Antrag 12/II/2023).
Im Mietrecht setzt die SPD auf eine Bundesregelung für Mietendeckel und Mieterschutz (Antrag 13/II/2023).
Auf EU-Ebene wird der Green Deal mit rotem Kern gefordert: Klimapolitik muss sozial gerecht sein (Antrag 14/II/2023). Emissionshandel, CO₂-Preis, Klimasozialfonds, alles soll so ausgestaltet werden, dass nicht nur Konzerne profitieren.
Auch internationale Solidarität taucht auf: faire Handelsabkommen, Ernährungssicherheit, Unterstützung des Globalen Südens.
Sprachliche Marker 2023
„sozial, klimaneutral und bezahlbar“ (01/II/2023)
„Resilienz“ (03/II/2023)
„Warmmietenneutralität“ (06/II/2023)
„Verkehrswende“ (07/II/2023)
„Schwammstadt“ (08/II/2023)
„Green Deal mit rotem Kern“ (14/II/2023)
Es sind Marker, die die Krise nicht leugnen, sondern als Gestaltungsauftrag übersetzen.
Konfliktlinien
Klimaziele vs. Mieterschutz: Sanierungen sind teuer, Warmmietenneutralität verschiebt die Kosten auf Staat und Investoren.
Finanzierung vs. Schuldenbremse: Ein 10-Mrd.-Sondervermögen (03/II/2023) steht im Konflikt mit der Schuldenregel.
Transformation vs. Wettbewerbsfähigkeit: Industriestrompreis (09/II/2023) soll beides sichern, bleibt aber ein Balanceakt.
Parteidemokratie vs. Effizienz: Mehr Mitgliederentscheide (07/I/2023) bedeuten mehr Legitimität, aber auch mehr Verfahren.
Fazit 2023
2023 war für die SPD Berlin ein Jahr der doppelten Buchführung. Nach innen suchte sie die Lehren aus der Wahl, mit Anträgen zur Aufarbeitung, neuen Regeln, mehr Transparenz. Nach außen versuchte sie, Berlin als Modell einer sozialen Klimawende zu positionieren: 10 Milliarden Euro Sondervermögen, Warmmietenneutralität, 29-Euro-Ticket, Schwammstadt.
Die Konflikte bleiben scharf: Wie finanziert man all das? Wie schützt man Mieter:innen, ohne Investitionen zu bremsen? Wie hält man die Basis bei Laune, ohne Entscheidungsprozesse zu verlangsamen?
Die SPD Berlin antwortet 2023 mit einem klaren Credo: Klimapolitik ja, aber nur, wenn sie sozial gerecht ist. Damit legt sie die Latte hoch, für sich selbst und für die Bundespartei.
Nächstes Mal: 2024 – Zwischen Gaza und Zuckersteuer. Die SPD Berlin ringt um globale Haltung, Sozialpolitik im Detail und Ordnung in den eigenen Statuten.
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