2022 - Energiekrise und Sozialschutz
Preisdeckel, Mieterschutz, Kindergrundsicherung. Die SPD Berlin als Schutzarchitektur in Kriegs- und Inflationszeiten.
Energiekrise, Ukrainekrieg, Pandemie-Nachwehen: 2022 zwingt die SPD Berlin, ihre soziale DNA neu aufzuladen. Mit Entlastungspaketen, Mieterschutz und dem Versprechen, dass niemand frieren, hungern oder alleinbleiben soll.
Mein Name ist Andreas Dahrendorf, 58, SPD-Mitglied in Berlin-Kreuzberg-61. Ich lese die Anträge nicht wie Wahlplakate, sondern wie ein Kataster der Krisenbewältigung. 2022 steht im Zeichen der multiplen Überforderung: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, explodierende Energiepreise, die zweite Corona-Welle im Alltag. Die SPD Berlin versucht, all das mit sozialdemokratischer Handschrift zu beantworten. Manchmal detailverliebt, manchmal programmatisch groß, immer mit dem Anspruch, dass Solidarität nicht nur eine Haltung, sondern ein Instrument ist.
Leitlinien im Krisenjahr
Den Auftakt setzt Antrag 01/II/2022: „Berlin packt das“. Hier wird die Grundhaltung skizziert. Solidarität mit der Ukraine, klare Ablehnung des russischen Angriffskrieges, soziale Sicherheit nach innen. „Zusammenhalt“ wird zum Marker, „staatliche Verantwortung“ zur Überschrift. Flankierend folgt Antrag 02/II/2022, der die Energie- und Preiskrise in konkrete Politik übersetzt: Gas- und Strompreise deckeln, soziale Härten abfedern, Mieterschutz sichern. Schon im Leitantrag wird sichtbar: 2022 ist kein Jahr für Experimente, sondern für Schutzschirme.
Soziale Gerechtigkeit & Entlastung
Die Anträge lesen sich wie ein Katalog der Inflation. Antrag 07/II/2022 fordert einen Gas- und Strompreisdeckel, dazu einen Fonds für Energieschulden. Antrag 02/II/2022 ergänzt: Kündigungsmoratorium für Haushalte, die ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können. Im gleichen Atemzug wird eine Kindergrundsicherung eingefordert, dauerhaft, nicht nur als Notfallmaßnahme.
Auch die Steuerpolitik wird auf den Kopf gestellt: Antrag 05/II/2022 verlangt eine Vermögensabgabe, Antrag 09/II/2022 eine Übergewinnsteuer für Krisenprofiteure, Antrag 10/II/2022 eine gerechtere Einkommensbesteuerung. Dazu kommt die Forderung nach Absenkung oder Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel (Anträge 08/II/2022, 09/II/2022). Das sozialdemokratische Signal ist unmissverständlich: Wer viel hat, soll zahlen; wer wenig hat, soll entlastet werden.
Arbeit, Einkommen & Mitbestimmung
2022 wird der Mindestlohn zur politischen Frontlinie. Antrag 02/II/2022 fordert bundesweit 12 Euro, für Berlin aber eine Erhöhung auf 13 Euro. Der Marker „Respekt“ taucht hier auffällig häufig auf.
Betriebsräte und Mitbestimmung werden ebenfalls betont. Im Leitantrag finden sich Passagen, die das Union Busting, das Zerschlagen von Betriebsratsinitiativen, hart verurteilen. Der Tenor: Demokratie gilt auch im Betrieb. Für Studierende und Azubis legt Antrag 06/II/2022 nach: Anpassung des BAföGs, mindestens 130 Euro mehr Ausbildungsvergütung. Antrag 09/II/2022 ergänzt den Anspruch auf Unterstützungspakete für Studierende.
Energie, Wirtschaft & Transformation
Kaum ein Jahr ist so stark vom Energiesektor geprägt. Antrag 02/II/2022 verlangt nicht nur Deckelungen, sondern eine Rekommunalisierung von Fernwärme und GASAG, den Ausbau von Solar, Wind und Geothermie, eine Berliner Wasserstoffstrategie. Bürgerenergie und Mieterstrom sollen gefördert werden. „Klimagerechtigkeit“ wird hier nicht als Fernziel, sondern als Kriseninstrument formuliert.
Parallel wird über die Unterstützung energieintensiver Betriebe diskutiert. Antrag 04/II/2022 schlägt Soforthilfen und Liquiditätshilfen vor, um Arbeitsplätze zu sichern, ohne den ökologischen Umbau zu bremsen. Die Konfliktlinie ist sichtbar: wie viel Hilfe für Unternehmen, wie viel Druck für Transformation?
Wohnen & Mieten
Das Thema bleibt Dauerbrenner. Antrag 04/II/2022 fordert ein Kündigungsmoratorium für Mieter:innen, Antrag 07/II/2022 einen Fonds gegen Energiearmut. Antrag 02/II/2022 setzt auf Wohnraumförderung mit 750 Mio. Euro für 2022/23, Geld, das auch in Azubi- und Studierendenwohnheime fließen soll, deren Mieten auf 25 % der Ausbildungsvergütung begrenzt werden.
Ein eigener Strang widmet sich Wohnungstauschprogrammen für Senior:innen (Antrag 02/II/2022): Wer in zu großer Wohnung lebt, soll leichter in kleinere umziehen können, freiwillig, mit staatlicher Unterstützung. „Sozialer Wohnraum“ wird 2022 nicht nur gebaut, sondern auch umverteilt.
Bildung, Kultur, Teilhabe
Mit Antrag 02/II/2022 fordert die SPD eine Beschleunigung der Schulbauoffensive, Lernmittelfreiheit und kostenfreies Mittagessen bis in die Sekundarstufe. Auch die „warmen Orte“ tauchen auf: Mensen, Bibliotheken, Jugendklubs sollen geöffnet bleiben, als Schutzräume gegen Energiearmut.
Die kulturelle Teilhabe wird gleich mehrfach adressiert: vergünstigte Kultur- und Sporttickets für Bedürftige, mehr Programme für Kinder und Jugendliche. „Teilhabe“ ist das Schlüsselwort, von der Mensa bis zum Theater.
Gesundheit, Pflege & Soziale Infrastruktur
Antrag 02/II/2022 listet ein ganzes Bündel an Maßnahmen: Unterstützung für Pflegebedürftige und Angehörige, Ausbau der psychologischen Beratungskapazitäten für Kinder und Jugendliche, Netzwerke für Wärme und Notunterkünfte für Obdachlose. Sogar der Zugang zu Periodenprodukten für einkommensschwache Menschen wird politisch gefordert.
Hier zeigt sich, wie die SPD Berlin 2022 Sozialpolitik versteht: nicht nur auf Arbeitsmarkt oder Rente fokussiert, sondern auf den Alltag der Schwächsten.
Antifaschismus & Demokratie
Die Krise bietet Nährboden für Rechts. Antrag 01/II/2022 und 02/II/2022 warnen vor rechter Instrumentalisierung, fordern ein klares Bekenntnis zu Offenheit und Zuversicht. Der Marker „Zusammenhalt“ steht im Zentrum. 2022 wird Antifaschismus weniger über Parolen, mehr über Prävention und Haltung vermittelt.
Parteiinterne Organisation & Statuten
Auch 2022 bleibt die SPD bei sich selbst. Antrag 01/I/2022 und 02/I/2022 wollen die Frauenquote im Statut verschärfen: „mindestens eine Frau“ statt „eine Frau“. Weitere Anträge (06/I/2022, 07/I/2022, 08/I/2022) justieren Regeln für Doppelspitzen, Antragskommission, Kreisvorstände.
Ein wichtiger Punkt: Barrierefreiheit. Antrag 10/I/2022 fordert eine_n Inklusionsmanager_in und einen Inklusionstopf. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention soll auch innerhalb der SPD selbst gelten. Damit zeigt die Partei, dass Gleichstellung nicht nur eine Forderung nach außen, sondern auch eine Pflicht nach innen ist.
Internationale Solidarität
Die Berliner SPD zeigt Flagge für globale Themen. Antrag 100/I/2022 fordert ein Stipendienprogramm für Geflüchtete aus Drittstaaten in der Ukraine. Antrag 100/II/2022 verlangt faire Arbeitsstrukturen in der Entwicklungszusammenarbeit, ein Ende der Übervorteilung durch Entsandte.
Dazu kommt das Signal für globale Ernährungssicherheit und Klimagerechtigkeit (Antrag 101/I/2022, fortgeführt 2022). Berlin positioniert sich damit nicht nur als Landespartei, sondern als international vernetzte Akteurin.
Sprachmarker 2022
Die Marker sind fast prototypisch für die Krise:
„gerecht“ (05/II/2022, 09/II/2022)
„Teilhabe“ (128/II/2021, verlängert in 2022)
„solidarisch“ (01/II/2022, 02/II/2022)
„Zusammenhalt“ (01/II/2022)
„sozialer Wohnraum“ (02/II/2022)
„Klimagerechtigkeit“ (02/II/2022)
Es sind keine neuen Vokabeln, aber sie werden 2022 im Krisenkontext neu aufgeladen.
Konfliktlinien
Sozialstaat vs. Haushaltsdisziplin – Energiepreisdeckel, Mieterschutz, Wohnraumförderung: alles kostet Milliarden. Der politische Wille ist klar, die Finanzierung bleibt umstritten.
Transformation vs. Bestandsschutz – Klimaneutralität und Rekommunalisierung (02/II/2022) treffen auf die Realitäten energieintensiver Betriebe.
Symbolik vs. Verfahren – Frauenquote „mindestens eine Frau“ (01/I/2022, 02/I/2022) klingt selbstverständlich, scheitert aber fast an den Quoren.
International vs. Lokal – Solidarität mit Geflüchteten (100/I/2022) wirkt richtig, steht aber im Spannungsfeld lokaler Wohnungsnot.
Fazit 2022
2022 ist das Jahr, in dem die SPD Berlin Sozialdemokratie als Schutzarchitektur versteht. Von Energiepreisdeckel über Mieterschutz, von Kindergrundsicherung bis Periodenprodukte: Der rote Faden ist, dass niemand durch die Maschen fallen darf. Gleichzeitig wird deutlich, wie hart die Widersprüche sind: Finanzierung, Quoren, föderale Zuständigkeiten.
Die SPD Berlin zeigt sich als Krisenpartei, pragmatisch, aber nicht visionslos. Sie will Klimatransformation, sie will Gleichstellung, sie will Solidarität – und weiß doch, dass all das in einem Jahr des Krieges, der Inflation und der Pandemie Grenzen hat.
Nächstes Mal: 2023 – Green Deal mit rotem Kern. Aufarbeitung der Wahlniederlage und ein 10-Milliarden-Sondervermögen für Klimaschutz, Wärme und Mobilität.
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