2021 - #HerzenssacheBerlin
Wahlprogramm und Alltagsanträge zwischen Parks, Plattformarbeit und dem 65+ Ticket.
Wahljahr, Krisenjahr, Umbruchjahr: Mit #HerzenssacheBerlin versucht die SPD, der Pandemie ein soziales Versprechen entgegenzusetzen und ringt zugleich um Alltagsfragen wie Parks, Plattformarbeit und Senior:innentickets.
Mein Name ist Andreas Dahrendorf, 58, SPD-Mitglied in Berlin-Kreuzberg-61. Ich lese die Anträge nicht wie Parteitagsreden, sondern wie ein seismisches Messprotokoll. 2021 schlägt zwei große Ausschläge aus: Im Frühjahr legt die SPD Berlin mit #HerzenssacheBerlin ihr Wahlprogramm fest, eine Klammer über Soziales, Bildung, Wohnen, Verwaltung, Europa. Im Herbst folgen alltagsnahe Anträge, vom kostenlosen 65+ Ticket bis zur Sanierung von Feuerwachen. Dazwischen liegt die Bundestagswahl, die Pandemie und die Frage, wie viel Handlungsspielraum eine Landespartei in dieser Lage überhaupt hat
.
Das Programmjahr: #HerzenssacheBerlin
Das Herzstück 2021 ist der Leitantrag 01/I/2021, überschrieben mit „#HerzenssacheBerlin – Für eine soziale und sichere Metropole“. Hier fasst die SPD alles zusammen, was sie in den Wahlkampf tragen will. Von „bezahlbarem Wohnen“ bis „verlässlicher Sicherheit“ wird die Stadt als Metropole beschrieben, die sozial gerecht, klimaneutral und digital modern werden soll. Im Europakapitel ist die Tonlage auffallend ambitioniert: Berlin solle als „Stadt des Friedens“ europäische Integration vorantreiben, Mehrheitsentscheidungen im Rat unterstützen, Grundrechte durchsetzen und die Städtepartnerschaften pflegen (Antrag 01/I/2021).
Die Programmsprache verbindet große Rahmensätze mit kleinteiligen Handlungsaufträgen. Marker wie „sozial & sicher“, „Teilhabe“ oder „digitale Standards“ tauchen immer wieder auf. Man merkt, dass die SPD Berlin bewusst die Klammer größer zieht, um neben den Sachanträgen eine Erzählung zu liefern.
Arbeit & Plattformökonomie: Standards im digitalen Kapitalismus
Ein eigenes Kapitel 2021: die Plattformarbeit. Mit Antrag 04/I/2021 fordert die SPD, die Arbeits- und Sozialstandards für Fahrdienstleister und Plattformbetriebe endlich durchzusetzen. Was für viele abstrakt klingt, ist konkret gemeint: Uber, Lieferando & Co. sollen nicht länger Schlupflöcher für prekäre Beschäftigung sein. „Regulierung“ wird hier nicht als Innovationsbremse verstanden, sondern als Voraussetzung fairer Arbeit. Das Konfliktfeld ist klar: SPD gegen Gig-Economy, Verbraucherschutz gegen unternehmerische Freiheit.
Bildung & Digitalisierung: Die Pandemie als Brennglas
Kaum ein Bereich ist 2021 so präsent wie die Schulen. Antrag 25/I/2021 verlangt, dass alle Lehrkräfte eine Grundausstattung an Digitalkompetenz erhalten, dass es einen Warenkorb an IT-Standardausstattung gibt, dass Wartung und Support gesichert sind und jede Schule eine feste Ansprechperson hat. Dazu sollen Fortbildungen verpflichtend sein. Die Marker heißen „digitale Standards“ und „Unterrichtssicherheit“.
Parallel betont das Programm, dass Schulen demokratische Lernorte bleiben müssen. Die SPD will das Projekt Schüler:innenhaushalt verstetigen (Antrag 59/I/2021, bereits 2020 gestartet), Budgets zwischen 1.000 und 5.000 Euro pro Schule für selbstverwaltete Projekte. Demokratie lernen, nicht nur Mathe pauken. Das ist die Botschaft.
Stadtentwicklung & Wohnen: Barrierefreiheit und Gemeinwohl
Mit Antrag 12/I/2021 zieht die SPD eine klare Linie: Neubauten sollen mindestens 5% barrieregerechte Wohnungen nach DIN 18040-2R enthalten. Die Begründung ist deutlich: In einer alternden Metropole ist „barrierefrei“ kein Luxus, sondern Infrastruktur.
Gleichzeitig geht es um die Parks. Antrag 18/I/2021 fordert eine Änderung des Gesetzes für öffentliche Grünanlagen: Kultur- und Sportveranstaltungen sollen dort ermöglicht werden, die Definition „unzumutbare Störung“ soll präzisiert werden. Der Marker „Freiraum“ ist bewusst gewählt. Die SPD will Parks nicht nur als Ruhezone, sondern auch als „kulturelle Räume“ verstanden wissen. Hier liegt die Konfliktlinie offen: zwischen Anwohner_innen, die Ruhe wollen, und Nutzer_innen, die Kultur und Sport im Freien brauchen.
Mobilität: Frei ab 65
Antrag 128/II/2021 setzt einen symbolträchtigen Marker: kostenloser Nahverkehr für Senior:innen ab 65. Die Begründung verweist auf „Teilhabe bis ins Alter“. Gerade nach der Pandemie, in der viele ältere Menschen isoliert waren, wird Mobilität als Teilhabeinstrument verstanden. Es ist zugleich ein klassisches SPD-Thema: soziale Politik nicht nur für die Erwerbsjahre, sondern bis ins Alter.
Sicherheit & Verwaltung: Sanierung im Maschinenraum
Nicht nur große Programme, auch handfeste Infrastrukturfragen stehen auf der Agenda. Antrag 127/II/2021 fordert ein Dienststellensanierungskonzept für Polizeidienststellen und Feuerwachen, entwickelt gemeinsam mit den Beschäftigten. Der Marker „sicher arbeiten“ fällt mehrfach. Dahinter steckt mehr als Baupolitik: Es ist ein Eingeständnis, dass öffentliche Sicherheit nicht nur von Gesetzen, sondern auch von Gebäuden abhängt.
Gesundheit & Soziales: Einsamkeit als Politikfeld
Ein eher leiser, aber bemerkenswerter Antrag: 120/II/2021 fordert, die Bekämpfung von Einsamkeit gesetzlich zu verankern und zu finanzieren. Nach anderthalb Jahren Pandemie ist das nicht nur Sozialromantik, sondern eine konkrete Präventionsaufgabe. Die Begründung spricht von „gesellschaftlicher Spaltung“, die verhindert werden müsse. Hier wird sichtbar, wie breit Sozialpolitik gedacht werden kann, von Hartz IV bis hin zu Nachbarschaftskontakten.
Parteiorganisation: Statut als Spiegel
Auch 2021 bleibt die SPD bei sich selbst. Zwei Anträge wollen das Statut schärfen: Im § 23a Abs. 3 Nr. 1 (Kreisvorstand) und § 23b Abs. 2 Nr. 1 (Abteilungsvorstand) soll statt „davon eine Frau“ künftig „mindestens eine Frau“ stehen (Anträge 202/II/2021, 203/II/2021). Damit sollte klargestellt werden, dass auch rein weibliche Doppelspitzen möglich sind. Doch beide Anträge scheitern am 2/3-Quorum (21.01.2022). Politisch ist das trotzdem ein Signal: Gleichstellung bleibt auf der Agenda, auch wenn die formalen Hürden hoch sind.
Phasen 2021: Frühjahrsklammer und Winterdetails
Das Jahr teilt sich sichtbar:
Frühjahr (LPT I, 24. April 2021): Leitantrag #HerzenssacheBerlin (01/I/2021), große Programmsätze, flankiert von Digitalisierungs- und Arbeitsanträgen (25/I/2021, 04/I/2021).
Herbst/Winter (LPT II, 5. Dezember 2021): alltagsnahe Maßnahmen, Parks (18/I/2021), 65+ Abo (128/II/2021), Sanierungskonzept Polizei/Feuerwehr (127/II/2021), plus die Statutenänderungen (202/II/2021, 203/II/2021).
Man merkt: Die SPD Berlin organisiert ihre Programmatik bewusst in zwei Takten, erst die große Klammer, dann die Alltagsdetails.
Konfliktlinien
Pandemie-Erholung vs. Haushaltsdisziplin. Ein kostenfreies 65+ Ticket (128/II/2021) klingt populär, muss aber finanziert werden, genau wie die Sanierung von Dienststellen (127/II/2021).
Nutzungsvielfalt vs. Anwohnerschutz. Kultur- und Sportzonen in Parks (18/I/2021) kollidieren mit Ruhe- und Lärmschutzinteressen.
Regulierung vs. Innovation. Plattformarbeit streng regulieren (04/I/2021) bedeutet, mit Unternehmen wie Uber Konflikte offen auszutragen.
Gleichstellung vs. Verfahrenshürden. Die gescheiterten Anträge zur Doppelspitze (202/II/2021, 203/II/2021) zeigen: Politischer Wille reicht nicht, wenn Quoren nicht erreicht werden.
Sprachliche Marker 2021
„sozial & sicher“ (01/I/2021)
„Teilhabe“ (128/II/2021)
„digitale Standards“ (25/I/2021)
„barrierefrei“ (12/I/2021)
„kulturelle Freiräume“ (18/I/2021)
„mindestens eine Frau“ (202/II/2021, 203/II/2021)
Das sind die Schlüsselwörter, die sich wie ein roter Faden durch den Jahrgang ziehen.
Fazit 2021
2021 ist ein Jahr mit zwei Gesichtern. Im Frühjahr versucht die SPD Berlin mit #HerzenssacheBerlin (01/I/2021), der Pandemie ein soziales, optimistisches Versprechen entgegenzusetzen, von Wohnen über Bildung bis Europa. Im Winter richtet sie den Blick auf den Alltag: Parks, Senior:innentickets, Sanierungen. Dazwischen bleiben Konflikte: Wer zahlt die Teilhabe? Wer verträgt die Kultur im Park? Wie weit trägt Regulierung im Plattformkapitalismus? Und wie schwer wiegt ein Statut, das Gleichstellung will, aber an Quoren scheitert?
Die SPD Berlin 2021 ist pragmatisch, ambitioniert und begrenzt zugleich. Sie zeigt: Auch in der Krise kann man Politik machen, aber nicht ohne Reibung.
Nächstes Mal: 2022 – Energiekrise und Sozialschutz, Preisdeckel, Mieterschutz, Kindergrundsicherung. Die SPD Berlin als Schutzarchitektur in Kriegs- und Inflationszeiten.
dahrendorfSignal, not noise