2020 - Pandemie-Politik mit rotem Kern
Berlin-Zulage, digitale Schulen, Sterbehilfe-Debatte. Die SPD Berlin sucht Halt im Ausnahmezustand.
Zwischen Mietendeckel, Pandemie-Schock und den ewigen Fragen der sozialen Infrastruktur: 2020 zwingt die SPD Berlin zu konkreten Antworten und zu einem Balanceakt zwischen Krisenmanagement und Strukturpolitik.
Mein Name ist Andreas Dahrendorf, 58, SPD-Mitglied in Berlin-Kreuzberg-61. Ich habe die Anträge des Jahres 2020 gelesen wie ein Protokoll aus zwei Welten: Einerseits die Vision einer sozialen Hauptstadt, die Mieten deckelt, die Bahn elektrifiziert und Schüler:innen digital ausstattet. Andererseits die Realität von Lockdowns, Haushaltslöchern und gesundheitspolitischen Ausnahmezuständen. 2020 war für die SPD Berlin ein Jahr der Überforderung, aber auch ein Jahr, in dem die Partei versuchte, ihre Handschrift in Krisenzeiten sichtbar zu halten.
Arbeit & Wirtschaft: Von Berlin-Zulage bis Mitbestimmung
Zu Beginn: Berlin-Zulage für alle Beschäftigten in den Bezirksverwaltungen. Mit Antrag 20/I/2020 fordert die SPD Berlin, dass die geplante Zulage ab November 2020 nicht nur für Senatsverwaltungen, sondern auch für Bezirksverwaltungen, Kitas, Hochschulen und Kultureinrichtungen gilt. Der Marker „gerecht“ zieht sich durch: keine Unterschiede zwischen Landes- und Bezirksbeschäftigten.
Breiter geht Antrag 19/I/2020: „Mehr Demokratie in der Wirtschaft wagen“. Die SPD fordert, betriebliche Mitbestimmung auszuweiten, Betriebsräte zu stärken und die Unternehmensverfassungen demokratischer zu gestalten. Inmitten der Pandemie wirkt das wie ein Gegenentwurf zur Krise: nicht Rückzug, sondern Ausbau von Rechten.
Und dann die großen Debatten: Die SPD stellt klar, dass es keine Zerschlagung der Berliner S-Bahn geben darf. „Eine S-Bahn – aus einer Hand“ lautet der Beschluss (Antrag 198/I/2020). Das ist eine Kampfansage an Überlegungen, den Betrieb zu teilen.
Bildung: Digitalisierungsschub, nicht nur wegen Corona
Kaum ein Bereich wird 2020 so breit bespielt wie Bildung. Mit Antrag 60/I/2020 fordert die SPD, dass alle Schüler_innen und Lehrer_innen mit einem digitalen Endgerät ausgestattet werden, inklusive WLAN, Lernraum Berlin und Jugendschutz . Dazu kommt Antrag 61/I/2020, der die Digitalisierung der Schule zukunftsorientiert planen will: Standardisierung der Betriebssysteme, quelloffene Software, Ausbau des Medienforums, Open Educational Resources.
Noch konkreter: Mit Antrag 103/I/2020 werden bauliche Hygienestandards in Schulen gefordert – automatische Türöffner, berührungslose Wasserhähne. Man spürt die Pandemie in jeder Zeile.
Parallel wird das Projekt „Schüler:innenhaushalt“ zur Regel gefordert (Antrag 59/I/2020): Schulen sollen ein festes Budget von 1.000 bis 5.000 Euro für selbstverwaltete Projekte bekommen . Der Marker „Demokratie lernen“ verbindet politische Bildung mit Alltagsverwaltung.
Familie & Gesellschaft: Vielfalt anerkennen
Mit Antrag 81/I/2020 stellt die SPD Berlin klar: „Familie ist da, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen“. Regenbogenfamilien, Patchwork, Alleinerziehende. Vielfalt soll nicht nur anerkannt, sondern auch praktisch unterstützt werden. Das klingt selbstverständlich, war 2020 aber noch ein Signal gegen konservative Rollback-Tendenzen.
Parallel fordert Antrag 123/I/2020 ein inklusives, diskriminierungsfreies Berlin, das Menschen mit Behinderungen nicht nur beteiligt, sondern partizipativ mitgestalten lässt.
Gesundheit & Pflege: Sterbehilfe, Spahn und die Pandemie
2020 steht auch im Zeichen einer hochpolitischen Debatte: Sterbehilfe. Mit Antrag 107/I/2020 fordert die SPD Berlin, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn öffentlich zu rügen, weil er das Bundesinstitut für Arzneimittel angewiesen hatte, alle Sterbehilfe-Anträge pauschal abzulehnen, entgegen einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Der Marker „Menschenwürde“ wird hier zum juristischen Hebel.
Breiter wird mit Antrag 108/I/2020 gefordert, das Fallpauschalensystem im Gesundheitswesen zu überwinden. Statt ökonomischer Logik soll wieder Versorgungssicherheit im Mittelpunkt stehen. Ein direktes Echo auf die Pandemie-Erfahrungen: leere Betten, aber volles Budget reichten nicht mehr als Steuerungsinstrument.
Verkehr & Infrastruktur: Bahn, Abo, Klima
Mobilität ist 2020 ein Dauerbrenner. Mit Antrag 200/I/2020 fordert die SPD ein Sonderprogramm Bahn-Elektrifizierung. Das klingt technokratisch, ist aber klimapolitisch klar: mehr Strecken, weniger Diesel.
Für die ältere Generation soll es das VBB-Abo 65plus geben, unabhängig vom Alter, für alle Rentner:innen (Anträge 186/I/2020 und 187/I/2020). „Teilhabe bis ins Alter“ ist der Marker.
Und dann die S-Bahn: Der Widerstand gegen eine mögliche Ausschreibung und Zerschlagung bringt die SPD zur klaren Linie: „Eine S-Bahn – aus einer Hand“ (Antrag 198/I/2020) .
Klima & Umwelt
Mehrere Anträge 2020 drehen sich um konkrete Klimaschutzmaßnahmen. Die SPD Berlin fordert, den Bahnverkehr massiv zu elektrifizieren (Antrag 200/I/2020) und zugleich den Ausbau von Radwegen und ÖPNV prioritär zu behandeln.
Gleichzeitig geht es um Schule und Umwelt: Schüler:innen sollen stärker an Klimafragen beteiligt werden, auch über Projekte wie den Schüler_innenhaushalt (Antrag 59/I/2020).
Digitalisierung & Finanzen
Unter Pandemie-Bedingungen rückt die Digitalisierung in den Mittelpunkt. Antrag 102/I/2020 fordert die Verpflichtung zur eRechnung, um Steuerhinterziehung zu verhindern . Antragsteller ist die KDV Tempelhof-Schöneberg, die klarmacht: Digitalisierung ist nicht nur Service, sondern auch Kontrolle.
Parallel werden digitale Standards für Schulen gefordert (Antrag 61/I/2020). Quelloffene Software, dauerhafte Lizenzen, zentrale Bereitstellung, „digitale Souveränität“ wird zum Marker.
Antifaschismus & Recht
2020 bleibt die SPD bei ihrer Linie: Null Toleranz gegenüber Rechts. Das zeigt sich in kleineren, aber symbolträchtigen Anträgen: z. B. die Forderung, GBL als Droge ins BtMG aufzunehmen, um Missbrauch zu verhindern (Antrag 122/I/2020) .
Auch innerparteilich wird diskutiert: Diskriminierung als Ausschlussgrund bleibt gesetzt, eine Fortführung der Verschärfungen von 2017.
Parteiorganisation: Doppelspitze, Geschlechtergerechtigkeit
Mit Antrag 230/I/2020 wird die Option von rein weiblichen Doppelspitzen auf allen Ebenen ermöglicht. Der Marker „paritätisch“ ist längst Standard, 2020 kommt die weibliche Mehrheit als Option dazu.
Damit führt die SPD Berlin ihre Linie der letzten Jahre konsequent fort: Organisationsrecht als Spiegel politischer Haltung.
Sprachmarker 2020
Auffällig ist die Verschiebung der Sprache. Dominant sind „gerecht“, „Teilhabe“, „kostenfrei“, „digital“, „solidarisch“. Neu kommt „pandemiegerecht“ hinzu. Viele Anträge formulieren Gesundheitsschutz, Digitalisierung und Arbeitsmarktpolitik explizit im Licht der Corona-Krise.
Konfliktlinien
Land vs. Bund: Sterbehilfe (Antrag 107/I/2020) zeigt, wie begrenzt Landesparteien sind und wie scharf sie dennoch eingreifen können.
Ökonomie vs. Gesundheit: Fallpauschalen vs. Versorgungssicherheit. Ein systemischer Konflikt (Antrag 108/I/2020).
Soziale Gerechtigkeit vs. Haushaltslage: Berlin-Zulage für alle Beschäftigten (Antrag 20/I/2020) klingt einfach, kostet aber massiv.
Organisation vs. Symbolik: Weibliche Doppelspitzen (Antrag 230/I/2020) zeigen, dass auch innerparteiliche Symbole politische Wirkung entfalten.
Fazit 2020
2020 war ein Krisenjahr und das spiegelt sich in den Anträgen der SPD Berlin wider. Mieten deckeln, Arbeit absichern, Schüler:innen digital ausstatten, S-Bahn zusammenhalten, Sterbehilfe verteidigen: Die Themen sind breit, die Sprache ist präzise, die Konflikte sind real.
Die Partei zeigt, dass sie auch in Ausnahmezeiten programmatisch arbeitet – und dass sie bereit ist, im Detail zu regeln, während draußen die Welt wankt.
Nächstes Mal: 2021 – Wahljahr, Zeitenwende und die Frage, ob die Berliner SPD den Sprung aus der Defensive schafft.
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