2018 - Solidarisches Grundeinkommen und Drogenwende
Die SPD Berlin verschiebt Grenzen: Hartz-Korrektur, Entkriminalisierung, Karl-Marx-Allee und Checkpoint Charlie.
Ein Jahr der Grenzverschiebungen: Die SPD Berlin schiebt das Solidarische Grundeinkommen in die Debatte, denkt Drogenpolitik neu, verteidigt die Karl-Marx-Allee – und schraubt an den eigenen Strukturen.
Mein Name ist Andreas Dahrendorf, 58, SPD-Mitglied in Berlin-Kreuzberg-61. Ich lese die Anträge nicht wie Parteitagsreden, sondern wie seismische Protokolle. 2018 vibriert an gleich mehreren Faultlinien: Die SPD Berlin tastet sich an Themen vor, die bundesweit noch heikel sind – von der Entkriminalisierung der Sucht bis zur Abkehr vom Hartz-Regime. Gleichzeitig zeigt sie an Berliner Brennpunkten, wie sehr die Stadt zum Labor geworden ist: Karl-Marx-Allee, Checkpoint Charlie, Böllerdebatte. Und im Maschinenraum sortiert sie ihre Führung und Statuten neu.
Arbeit & Soziales: Vom „Arbeitsschutz 4.0“ bis zum Grundeinkommen
Die Sozialdemokratie lebt von ihrer Arbeitsmarktpolitik – 2018 zeigt sich, wie schwer die Korrektur des Agenda-Erbes fällt. Ein Antrag unter dem Titel „Arbeitszeit kürzen – Gesundheit schützen“ verlangt eine deutliche Reform des Arbeitszeitgesetzes: Verkürzte Höchstarbeitszeiten, verlängerte Ruhephasen, mehr Mitbestimmung bei Arbeitszeitkonten (Antrag 01/I/2018). Der Marker „Arbeitszeitverkürzung“ taucht wie ein Mantra auf – als Gegenpol zu einer Arbeitswelt, die immer flexibler und ungeschützter wirkt.
Parallel setzt die Berliner SPD ein Signal gegen Befristungswut: Im eigenen Zuständigkeitsbereich – also bei Land, Bezirken und öffentlichen Unternehmen – sollen sachgrundlose Befristungen restlos abgeschafft werden. Ein Antrag fordert eine Berichtspflicht, damit nicht nur ein Beschluss steht, sondern auch überprüfbar bleibt, ob das Land seine Rolle als „Guter Arbeitgeber“ erfüllt (Antrag 02/I/2018).
Doch das große Thema steckt zwischen den Zeilen: die Abkehr von Hartz IV. Mit dem Vorstoß für ein Solidarisches Grundeinkommen (Antrag 02/II/2018) wird der Begriff „Sanktionen“ erstmals so scharf in Frage gestellt. Statt Strafe soll Förderung, statt Unsicherheit soll Sicherheit regieren. Das Wort „Solidarität“ wird zur ökonomischen Kategorie – nicht mehr nur zum Parteiwert. In der Begründung heißt es klar: „Arbeit statt Sanktionen.“ Dieser Antrag prägt bundesweit die Debatte, auch wenn er 2018 noch wie eine Berliner Eigenwilligkeit wirkt.
Bildung: Demokratie lernen, nicht nur Mathe
Bildungspolitisch geht die SPD Berlin 2018 ungewöhnliche Wege. Sie fordert, dass die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung, Arbeitskampf und Mitbestimmung verpflichtend im Fach Politik verankert werden (Antrag 03/I/2018). Das klingt wie ein Echo aus Gewerkschaftshallen – ist aber bewusst gesetzt: Politische Bildung soll nicht nur Demokratie erklären, sondern Klassenfragen sichtbar machen.
Die Polizei wird in die Pflicht genommen. Ein Antrag verlangt den Erhalt des Fachs Politische Bildung an der Polizeiakademie – „quantitativ und qualitativ“ gesichert, durch ausgebildetes Lehrpersonal (Antrag 04/I/2018). Der Marker „Demokratiekompetenz“ taucht in den Begründungen auf – eine Antwort auf die damals virulente Debatte über rechte Netzwerke in Sicherheitsbehörden.
Gesundheit & Drogen: „Sucht ist kein Verbrechen“
Kaum ein Antrag ragt so weit über Berlin hinaus wie die Forderung: „Gesundheit first, Bedenken second – Sucht ist kein Verbrechen!“ (Antrag 05/I/2018). Der Leitantrag verlangt eine radikale Umsteuerung: Statt Strafrecht soll Gesundheitspolitik im Zentrum stehen. Drogenpolitik müsse ins Ressort Gesundheit, nicht in Inneres oder Justiz.
Die Begründungen sind präzise: Entkriminalisierung des Eigenbedarfs, Ausbau von Prävention, Evaluation der Kosten der Repression. Der Marker „Entstigmatisierung“ zieht sich durch. Und zugleich wird Cannabis zum Testfall. Mehrere Anträge fordern den Bund auf, endlich die rechtliche Grundlage für Modellprojekte zur staatlich kontrollierten Abgabe zu schaffen (Anträge 147/II/2018 und 148/II/2018). Abstände zu Schulen, Jugendschutzauflagen, Besteuerung analog Alkohol und Tabak – die SPD Berlin denkt das durch wie ein Gesetzesentwurf.
Die innere Spannung bleibt: Während Jusos und Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Ärzt_innen klar für Entkriminalisierung argumentieren, markiert die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Jurist_innen (ASJ) Vorbehalte – vor allem bei harten Drogen. Die Konfliktlinie ist damit nicht nur politisch, sondern auch innerparteilich sichtbar.
Mobilität: Gratis bis 16, Seilbahn im VBB
Auch der ÖPNV wird im Detail neu gedacht. Ein Antrag fordert die kostenfreie Nutzung bis 16 Jahre – als logische Verlängerung der beitragsfreien Bildung (Antrag 06/I/2018). Der Marker „kostenfrei“ wird hier zum roten Faden einer breiteren Linie: Schule ohne Gebühren, Nahverkehr für Kinder ohne Ticketkontrolle.
Die Debatte geht sogar bis zur IGA-Seilbahn in Marzahn. Sie soll erhalten, sozialverträglich bepreist und in den VBB-Tarif integriert werden (Antrag 87/II/2018). Das klingt marginal, ist aber typisch Berlin: Mobilitätspolitik zeigt sich auch im Kleinen, und die SPD will sie nicht Investoren, sondern dem Gemeinwohl überlassen.
Sicherheit & Ordnung: Quartier statt Knüppel
Mit dem Antrag „Sicher leben in Berlin – urbane Sicherheit“ (Antrag 02/II/2018) formuliert die SPD eine alternative Sicherheitsstrategie. Kern: Prävention vor Repression. In allen Bezirken sollen Präventionsräte eingerichtet werden, um Anwohner*innen, Polizei und Verwaltung zusammenzubringen. Statt „Law and Order“ setzt die SPD auf „Quartier und Beteiligung“.
Doch es gibt auch härtere Töne. Die Debatte um Böllerverbote wird intensiv geführt: Von Verkaufsbeschränkungen über Zonen bis zu böllerfreien Innenstädten. Argumentiert wird mit Feinstaub, Lärm, Verletztenzahlen (Antrag 08/I/2018). Berlin soll das bundesweit anstoßen – notfalls über den Bundesrat. Der Marker „Gesundheitsschutz“ rahmt hier eine eigentlich ordnungspolitische Frage.
Wohnen & Stadtentwicklung: Karl-Marx-Allee und Checkpoint Charlie
Berlin bleibt Mieterstadt – und 2018 wird das an zwei Adressen zum Politikum.
Karl-Marx-Allee: Der Verkauf ganzer Blöcke an die Deutsche Wohnen droht das Mieter_innenvorkaufsrecht faktisch zu unterlaufen. Grund: fehlende Belastungsvollmacht in den Kaufverträgen, die Banken sonst für Kredite verlangen. Die SPD fordert deshalb ein IBB-Kreditprogramm, das ohne zusätzliche Sicherheiten funktioniert und fristgerecht ausgezahlt wird (Antrag 09/II/2018). Das ist so technokratisch wie revolutionär: Der Staat springt dort ein, wo das Privatrecht den Mieter_innen das Instrument verwehrt.
Checkpoint Charlie: Die SPD zieht eine klare Linie: „Keine Renditeimmobilie.“ Stattdessen fordert sie eine gemeinwohlorientierte Entwicklung mit öffentlicher Kontrolle, historischer Würdigung und transparentem Verfahren (Antrag 10/II/2018). Der Vertrag mit Trockland wird ausdrücklich in Frage gestellt. Wieder geht es um eine symbolträchtige Adresse, die die SPD nicht Investoren überlassen will.
Internationale Solidarität: Blick nach Brasilien
Ein kurzer, aber markanter Antrag richtet sich gegen die Wahl Jair Bolsonaros in Brasilien. Die SPD Berlin erklärt ihre Solidarität mit der brasilianischen Demokratiebewegung und kritisiert die autoritäre Wende (Antrag 11/II/2018). Damit schlägt die Berliner SPD außenpolitische Töne an, die weit über ihre Zuständigkeit hinausreichen.
Parteiorganisation: Erneuern, Doppelspitzen, Fachausschüsse
Auch intern geht es 2018 weiter. Gleich mehrere Anträge behandeln die Reform der Parteistrukturen. Ein Antrag mit dem Titel „Für eine starke SPD in Berlin: organisatorisch erneuern“ bündelt die Forderungen: mehr Transparenz, bessere Mitgliederbeteiligung, effizientere Entscheidungswege (Antrag 01/II/2018). Dazu kommt der Vorschlag, auch in Fachausschüssen Doppelspitzen einzuführen – paritätisch und verbindlich (Antrag 01/I/2018).
Die Botschaft ist eindeutig: Nach 2017, wo Doppelspitzen auf Kreis- und Abteilungsebene eingeführt wurden, weitet die SPD das Modell aus. Der Marker „paritätisch“ zieht sich durch alle Änderungsanträge.
Sprachmarker 2018: „Gemeinwohl“, „Entkriminalisierung“, „kostenfrei“
Die Texte sind auffällig präzise. „Gemeinwohlorientierung“ taucht bei Stadtentwicklungsprojekten auf, „Entkriminalisierung“ prägt die Drogenpolitik, „kostenfrei“ strukturiert Bildungs- und Mobilitätsfragen. Das sind keine Schlagworte, sondern Programmbegriffe – Wörter, die sofort den Handlungsauftrag mitliefern.
Konfliktlinien:
Bundesrecht vs. Landespolitik: Bei Drogen und Mieten stößt Berlin auf Bundesgrenzen. Modellprojekte sind möglich, aber ohne BtMG-Änderung oder Gewerbemietrecht bleiben viele Ideen hängen.
Sicherheit vs. Freiheit: Böllerverbote teilen die Stadt – hier prallen Freiheitsargumente und Gesundheitsrhetorik aufeinander.
Sozialstaat vs. Agenda-Erbe: Das Solidarische Grundeinkommen markiert den Bruch mit Hartz IV – aber auch die Frage: Wie finanzieren, wie umsetzen?
Fazit 2018
2018 ist ein Jahr der Grenzverschiebungen. Die SPD Berlin bringt Themen in die politische Landschaft, die noch vor Kurzem als Tabubruch galten: Arbeitszeitverkürzung, Entkriminalisierung, Grundeinkommen. Sie verteidigt symbolische Orte der Stadt gegen Investorenlogik, experimentiert mit Gratis-ÖPNV, ringt mit Fragen der urbanen Sicherheit.
Gleichzeitig sortiert sie sich nach innen neu: Doppelspitzen, organisatorische Erneuerung, neue Leitlinien. Der Ton ist technokratisch, die Sprache präzise, die Konflikte sichtbar. Berlin wird so zur Werkbank für bundespolitische Experimente – und die SPD Berlin zum Motor, der weit mehr antreibt als die Koalition im Roten Rathaus.
Nächstes Mal: 2019 – die Doppelspitze wird Standard, Mobilität und Kultur werden greifbar, und die SPD Berlin schärft ihr Profil im Maschinenraum der Demokratie.
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