2017 - Tarifbindung statt Agenda-Erbe
Die SPD Berlin versucht, soziale Gerechtigkeit über Arbeit, Wohnen und Parteireformen neu zu definieren.
Zwischen Koalitionsalltag und innerer Erneuerung: 2017 war für die SPD Berlin ein Jahr der ersten großen Bewährungsprobe unter Rot-Rot-Grün. Mit harten Auseinandersetzungen um Wohnen, Arbeit, Integration und die Zukunft der eigenen Partei.
Mein Name ist Andreas Dahrendorf, 58, SPD-Mitglied in Berlin-Kreuzberg-61. Wer 2017 im Antragskorpus liest, sieht eine SPD, die zwischen Anspruch und Realität pendelt. Nach dem Wahljahr 2016 geht es nicht mehr um große Versprechen, sondern um konkrete Umsetzung und um die Frage, wie man in einer Dreierkoalition eigene Akzente setzt, ohne die Partner permanent vor den Kopf zu stoßen. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Partei nach innen ringt: mit dem Erbe der Agenda-Politik, mit Fragen der Demokratie und der Erneuerung.
Parteiorganisation: Von Doppelspitze bis Parteiausschluss
2017 wird die SPD Berlin auch zu ihrem eigenen Versuchslabor. Mehrere Anträge drehen sich um Satzungsfragen und innere Ordnung. Diskutiert wird etwa die Einführung von Doppelspitzen auf allen Ebenen, um Geschlechtergerechtigkeit und gemeinsame Verantwortung besser abzusichern (Antrag 06/II/2017). Parallel fordern Delegierte, die Parteibasis stärker einzubinden, indem Mitgliederbefragungen vor wichtigen Personalentscheidungen verbindlich werden (Antrag 07/II/2017).
Auch in Sachen Ordnungsrecht verschärft die SPD den Ton. Im überarbeiteten § 35 Organisationsstatut wird festgelegt, dass künftig auch diskriminierendes Verhalten ein Grund für Parteiausschlüsse sein kann (Antrag 10/I/2017). Der Marker „Null Toleranz“ taucht in mehreren Begründungen auf. Das ist keine Nebensächlichkeit: Die SPD Berlin versucht, in Zeiten wachsender Polarisierung ihre antifaschistische Grundhaltung juristisch abzusichern.
Gleichzeitig wird die Frage gestellt, wie die SPD bundesweit programmatisch wieder schärfer werden kann. Ein Antrag fordert explizit ein neues Grundsatzprogramm, das „mutiger, linker und radikaler“ sein solle als das schwächelnde Hamburger Programm von 2007 (Antrag 09/II/2017). Die innere Diagnose ist eindeutig: „Orientierungslosigkeit“ darf nicht länger der Markenkern sein.
Arbeit & Soziales: Kampf gegen Prekarisierung
Kaum ein Themenblock wird 2017 so intensiv diskutiert wie Leiharbeit und Tarifbindung. Schon früh liegt ein Antrag auf dem Tisch, der fordert, Leiharbeitnehmer*innen mindestens 130 Prozent des Lohns regulär Beschäftigter zu zahlen (Antrag 05/I/2017). Dazu soll nach sechs Monaten eine Beweislastumkehr greifen: Arbeitgeber müssen dann nachweisen, warum eine Stelle nicht regulär besetzt werden kann. Ab neun Monaten gilt „equal pay“, ab zwölf Monaten eine strikte Nachweispflicht.
Auch die Tarifflucht im Verantwortungsbereich des Landes wird ins Visier genommen. Die Charité-Tochterfirmen, die Musikschulen, die Volkshochschulen. Überall dort, wo Berlin selbst Arbeitgeber ist, sollen künftig Tarifverträge verbindlich gelten. „Tarifvertragsfreie Zonen“ sind mit sozialdemokratischem Anspruch unvereinbar (Anträge 06/I/2017 und 07/I/2017).
Parallel wird über ein solidarisches Grundeinkommen diskutiert, das als Alternative zu Hartz IV in die politische Debatte eingespeist wird (Antrag 129/I/2017). Der Marker „Arbeit statt Sanktionen“ prägt die Begründungen. Damit setzt sich die Berliner SPD bewusst gegen das restriktive Hartz-Regime ab, das viele noch immer mit der Agenda-Politik der eigenen Partei verbinden.
Wohnen & Stadtentwicklung: Offensive gegen Verdrängung
Auch 2017 bleibt Wohnen das Leitmotiv. Gleich mehrere Anträge fordern eine große Wohnungsbauoffensive: bundesweit 400.000 neue Wohnungen pro Jahr, davon 80.000 Sozialwohnungen (Antrag 134/I/2017). Für Berlin wird konkret der Ausbau der landeseigenen Wohnungsbestände auf mindestens 400.000 Einheiten festgeschrieben.
Instrumente sind: Leerstandserfassung, konsequente Anwendung von Milieuschutzsatzungen, und die Prüfung einer Rekommunalisierung der GSW-Bestände (Antrag 08/III/2016, 2017 erneut bekräftigt). Der Marker „bezahlbar“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Begründungen.
Zugleich will die SPD verhindern, dass Luxussanierungen zur Verdrängung führen. Ein Antrag schlägt vor, die Modernisierungsumlage bundesweit auf maximal fünf Prozent pro Jahr zu begrenzen, die Kappungsgrenze auf höchstens drei Euro pro Quadratmeter binnen acht Jahren (Antrag 135/I/2017). Hier ist die Handschrift klar: „Mieter*innen schützen“ geht vor Rendite.
Bildung & Teilhabe: Von Kitas bis Hochschulen
Die SPD Berlin versteht 2017 Bildung als soziales Infrastrukturprojekt. Ein Antrag fordert die Einführung von Schulgesundheitskräften nach Brandenburger Modell (Antrag 20/I/2017). Parallel wird die digitale Erstausstattung aller Berliner Schüler*innen verlangt, inklusive WLAN und Plattform „Lernraum Berlin“ (Antrag 21/I/2017).
Auch die Kitas geraten in den Blick: Betreuungsschlüssel sollen verbessert, Leitungen entlastet, Verwaltungskräfte eingestellt werden (Antrag 22/I/2017). Gleichzeitig soll Kita-Sozialarbeit in die Regelfinanzierung übergehen.
Im schulischen Bereich wird das Programm „Beste Schulen in schwieriger Lage“ aufgelegt. Jährlich 20 Millionen Euro für gezielte Förderung in sozial benachteiligten Bezirken (Antrag 23/I/2017). Dazu kommen Forderungen nach verpflichtendem Klassenrat, psychologischer Betreuung, Ruheräumen und kostenlosen Nachhilfeangeboten (Antrag 24/I/2017).
Auch an Hochschulen will die SPD die Tarifbindung stärken und berufsbegleitende Erzieher*innen nicht länger im Personalschlüssel anrechnen lassen (Antrag 25/I/2017). Der Marker „Chancengleichheit“ taucht wiederholt auf, Bildung soll nicht Leistungsmühle, sondern „Lebensort“ sein.
Integration & Migration: Institutionalisierung statt Flickwerk
Nach der „Willkommenskultur“ von 2015/16 geht es 2017 um institutionelle Verankerung. Die SPD Berlin fordert ein Bundesministerium für Integration und Migration (Antrag 105/I/2017). Flankiert wird das durch konkrete Maßnahmen: ein Rechtsanspruch auf Integrationskurse (Antrag 107/I/2017), flexiblere Kursgestaltung (Antrag 106/I/2017) und der Ausbau niedrigschwelliger Sprachangebote.
Die Botschaft ist klar: Integration soll nicht von Projektmitteln abhängen, sondern als Staatsaufgabe gelten. Der Marker „Teilhabe“ zieht sich auch hier durch die Texte.
Gesundheit & Pflege: Von Nachbarschaftshilfe bis Prävention
Auch Gesundheit und Pflege tauchen 2017 mehrfach auf. Gefordert wird der Ausbau von Nachbarschaftshilfe für Pflegebedürftige (Antrag 140/I/2017) und die Stärkung kultursensibler Pflegeangebote (Antrag 141/I/2017). Parallel geht es um Prävention: regelmäßige Hausbesuche sollen frühzeitig Risiken abfangen (Antrag 142/I/2017).
Verkehr & Infrastruktur: Kostenfreie Tickets und Tegel-Debatte
Die SPD Berlin bleibt ihrer Linie treu: ÖPNV soll bezahlbar und zugänglich sein. 2017 fordert sie die Einführung eines kostenfreien ÖPNV für Kinder (Antrag 117/I/2017) sowie ein „Welcome-to-Berlin“-Ticket für Geflüchtete (Antrag 118/I/2017).
Zugleich stellt sie sich klar gegen die Offenhaltung des Flughafens Tegel. Gleich zwei Anträge bekräftigen: Tegel soll nach Inbetriebnahme des BER geschlossen werden (Anträge 124/I/2017 und 125/I/2017). Der Marker „Verlässlichkeit“ fällt mehrfach, Versprechen müssen eingehalten werden.
Antifaschismus & Sicherheit: Klare Linie gegen Rechts
2017 steht im Zeichen wachsender Bedrohung durch rechte Gewalt. Die SPD Berlin fordert Verschärfungen im Waffenrecht (Antrag 150/I/2017), zentrale Register und spezialisierte Abteilungen bei Staatsanwaltschaften. Parallel wird ein Leuchtturmprojekt für Antifaschismus formuliert: der Wiederaufbau der Synagoge Fraenkelufer (Antrag 151/I/2017). Der Marker „Haltung“ taucht immer wieder auf.
Sprachliche Marker & Konfliktlinien
Die Sprachlage 2017 ist auffällig homogen. „Bezahlbar“, „gerecht“, „Teilhabe“, „Integration“, „Chancengleichheit“. Das sind die dominanten Marker. Neu hinzu kommen „Willkommenskultur“, „Geflüchtete“, „Fahrradstadt“.
Die Konflikte verlaufen entlang von drei Achsen:
Koalitionspartner – Linke drängen auf schärfere Mietregeln, Grüne auf Verkehrswende. Die SPD sucht Balance.
Finanzen – Viele Forderungen sind programmatisch plausibel, aber haushalterisch dünn unterlegt.
Agenda-Erbe – Die Distanzierung von Hartz IV zeigt, wie sehr die SPD ihr eigenes Versprechen von sozialer Sicherheit neu aufladen muss.
Fazit 2017
2017 war kein Wahljahr, sondern ein Umsetzungsjahr und genau das macht es spannend. Die SPD Berlin versucht, ihr Profil in der Koalition zu behaupten: mit klaren Kanten beim Wohnen, mit sozialen Entlastungen im ÖPNV, mit einem Programm für Bildung und Teilhabe. Parallel dazu erneuert sie sich nach innen: Doppelspitzen, Mitgliederbefragung, neue Regeln im Ordnungsrecht.
Es ist ein Jahr der Verdichtung, nicht des Aufbruchs. Aber gerade darin liegt die Relevanz: Die Konflikte von 2017, um Mieten, um Verkehr, um Integration und innere Erneuerung prägen die Berliner SPD bis heute.
Nächstes Mal: 2018 – Solidarisches Grundeinkommen und Drogenwende. Die SPD Berlin verschiebt Grenzen. Hartz-Korrektur, Entkriminalisierung, Karl-Marx-Allee und Checkpoint Charlie.
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